Hast du dich schon einmal gefragt, was der Unterschied zwischen «Best Practices» oder «Good Practices» ist und wann am besten welche eingesetzt werden? Oder in welcher Situation ein planorientiertes oder agiles Vorgehen sinnvoll ist?
Dann solltest du unbedingt das Cynefin Framework kennen lernen! Und wenn du dir diese Fragen noch nicht gestellt hast, ist jetzt trotzdem der richtige Moment dieses Framework kennen zu lernen und dich inspirieren zu lassen.
Cynefin (walisisch ausgesprochen «Canäwin») kommt aus dem walisischen und bedeutet «Lebensraum» oder «Ort». Oder noch detaillierter: “Ort der vielfältigen Zugehörigkeiten: kulturell, religiös, geografisch, stammesgeschichtlich etc.»
Entwickelt wurde das Framework von Marie E. Boone und vom Waliser Dave Snowden.
Das Cynefin-Framework ist ein Wissensmanagement-Framework. Das bedeutet, es liefert in verschiedenen Alltagssituationen eine Hilfestellung um Aufgaben, Probleme und Situationen zu beschreiben und zu analysieren. Der Mensch braucht solche Hilfestellungen, denn er ist ein rational denkendes Wesen, liebt einfache Zusammenhänge und versucht Probleme mit ihm vertrauten Ansätzen zu lösen.
Anders als in der traditionellen Management-Theorie und dem one-size-fits-all-Ansatz beschreibt das Cynefin Framework die
Beziehung zwischen Menschen, deren Erfahrungen und dem aktuellen Kontext.
Abhängig davon, in welchem Bereich des Frameworks du dich befindest, solltest du deshalb anders denken und handeln.
Das Cynefin Framework ist nicht als Zuordnungsframework in Form einer definierten 2x2-Matrix zu verstehen, sondern als sinnstiftendes Framework. Das heisst, aufgrund der vom Menschen wahrgenommenen Sinneseindrücke wird die Situation entsprechend in einen Bereich eingeordnet.
Zum Aufbau des Frameworks
Das Cynefin Framework besteht aus drei Basissystemen wobei das eine in zwei Bereiche aufgeteilt wird. Neben den daraus resultierenden 4 Bereichen gibt es noch einen in der Mitte liegenden Bereich des Nicht-Wissens.
Die 3 Basissysteme sind:
- Geordnetes System (simple, complicated)
- Komplexes System (complex)
- Chaotisches System (chaotic)
Die 4 daraus resultierenden Bereiche sind:
- «Simple»: Sense - Categorize - Respond (erkennen – einordnen – reagieren)
-
- Dieser Bereich beschreibt die erkennbare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Solche Vorgänge sind daher vorhersagbar und können sich wiederholen. Dadurch ergeben sich für die jeweiligen Situationen «Best Practices», die immer wieder angewandt werden können.
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Ein
Beispiel dafür ist
das Bearbeiten eines Kontoantrags bei einer Bank. Dazu gibt
es eine Best Practice Checkliste, die den Prozess
vereinfacht.
- «Complicated»: Sense – Analyse - Respond (erkennen – analysieren – reagieren)
-
- Auch hier existieren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, sie sind aber nicht offensichtlich und erfordern eine gewisse Erfahrung und Expertise. Durch Erfahrung entstehen «Good Practices», die in den jeweiligen Situationen eingesetzt werden können.
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Ein
Beispiel ist das Bauen eines Hauses. Selbst wenn alles im Voraus geplant wurde gibt es immer wieder knifflige Situationen zu lösen.
Ein erfahrener Architekt greift in diesen Situationen
auf seine Expertise zurück und löst so die
Herausforderungen.
- «Complex»: Probe – Sense - Respond (sondieren – erkennen – reagieren)
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- Komplex ist ein System ohne Kausalität. Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind erst im Nachhinein ersichtlich. In der Praxis bedeutet das, dass wir beim erstmaligen Lösen eines Problems noch nicht wissen, wie die bestmögliche Lösung für das Problem aussieht. Vorgehen, die einen Lernprozess erlauben sind bei einem komplexen Problem sehr wichtig. Das heisst iterativ Ideen und Ansätze ausprobieren, neue Erkenntnisse gewinnen, wieder probieren, bis man am Schluss zur gewünschten Situation gelangt. Daraus resultieren Praktiken sogenannte «Emergent Practices», die in diesem speziellen Fall funktionieren.
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Beispiel: Du hast es möglicherweise
schon erahnt... Die Beschreibung passt perfekt auf agile Projekte. Ein solches Projekt könnte der Bau einer
neuartigen Brücke sein. Zuerst wird in kleinen Experimenten ausprobiert, was funktioniert und was
umsetzbar ist. Durch das ständige Lernen ist man am Ende fähig, eine Brücke zu konstruieren, die den Anforderungen entspricht.
- «Chaotic»: Act – Sense - Respond (agieren – erkennen – reagieren)
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- Alles geschieht zufällig. Es können keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen erkannt werden. Es geht darum die Situation zu stabilisieren. Jede Praktik die sich daraus ergibt ist zu diesem Zeitpunkt komplett neu.
- Ein klassisches Beispiel ist ein Brand eines Gebäudes - eine Ausnahmesituation, die keinen bekannten Mustern folgt, sondern jedes Mal anders ist.
Das zentrale Feld in der Mitte heisst «Disorder» (Unordnung). Dieser Bereich wird als Bereich des Nicht-Wissens bezeichnet. Sei es, dass sich die Person nicht die Mühe macht über die Eigenschaften der Situation nachzudenken, oder sei es, dass sie sich grundsätzlich nicht der Situation bewusst ist, in der sie sich gerade befindet.
Es gibt in einer solchen Situation zwei Arten, wie eine Person eine Herausforderung angeht:
-
Sie wird
sich bewusst, in welchem Bereich des Cynefin Frameworks sich die Herausforderung befindet und geht dementsprechend bei der Lösungsfindung
vor.
- Der jedoch viel häufigere Fall ist folgender: Basierend darauf, in welchem Umfeld sich eine Person normalerweise bewegt, nimmt sie das entsprechende Denken und Handeln dieses Bereiches an, was ihr Vorgehen bei Lösung von Problemen prägt. D.h. sie geht bei ihrer Problemlösung, unabhängig vom Bereich des Cynefin Frameworks, immer gleich vor. Zwei Beispiele:
-
- Wer in einer Verwaltung in der Regel mit simplen Problemen arbeitet, wird mehr in «Best Pracitces» denken (er/sie siehst alle Probleme als failure of process).
- Wer oft mit komplizierten Problemen arbeitet, versucht die Herausforderungen auf Basis von seiner Expertise «Good Practices» zu lösen.
Ein letztes Detail im Framework ist die kleine «Welle», unten zwischen den Bereichen «Chaotic» und «Simple». Dieses Detail kommt zum Tragen, wenn man über sich wechselnde Situationen und Umstände nachdenkt. Die Welle symbolisiert, dass die Grenze zwischen diesen Bereichen nicht so fliessend ist wie die anderen. Wenn man glaubt, dass Dinge einfach sind, glaubt man implizit, dass sie geordnet, einfach kontrollierbar sind und man wird bequem. Sobald sich die «simple»-Situation, jedoch ohne, dass man sich dem bewusst ist, hin zu einer chaotischen Situation ändert, wird man mit dem vorherigen Verhalten ziemlich schnell Schiffbruch erleiden.
Long story short
Das Cynefin Framework hilft das intuitive Denken zu durchbrechen. Es ist wesentlich einfacher zu wissen, wie man arbeiten soll, sobald die Art des Problems bekannt ist.
Die Leute sollen sagen: «Warte einen Moment, das ist ein komplexes Problem und deshalb müssen wir so handeln», oder «Das ist ein kompliziertes Problem, welchen Experten sollten wir einbeziehen?»
Nachdem du nun das Cynefin Framework verstanden hast, ist es Zeit für ein Beispiel von Dave Snowden himself.
Stell dir vor du organisierst eine Party für 9-jährige Kinder in deinem Haus...
-
Aus geordneter Perspektive (simple und complicated) agierst du wie viele der
heutigen Berater: Du strukturierst das Fest mit einem Projektplan
mit Meilensteinen, Lernzielen, jedes Kind erhält zu
Beginn verschiedene Disney-Karten auf denen die Verhaltensregeln erklärt werden. Du startest das Fest mit einem motivierenden Video, zeigst eine
PowerPoint-Präsentation um das gewünschte Verhalten zu veranschaulichen. Am Ende wird es
eine erfolgreiche Party gewesen sein, es werden Daten erhoben und ein Feedback abgeholt. Wenn in diesem Zeitpunkt die Kinder
nicht glücklich sind, was fast sicher ist ;-), wird ein Happiness Consultant angestellt, der dann mit
seinen Happiness-Methoden versucht den gewünschten Gemütszustand der Kinder zu erreichen.
-
Wie du vorhin gelernt hast, können wir bei
einem komplexen System (complex) erst im Nachhinein Zusammenhänge entdecken und daraus Praktiken
ableiten. Generell gibt es Elemente, die zu einem gewünschten Verhalten führen
und solche, die eher weniger zu einem solchen
führen. Basierend auf diesem Gedanken, stellst du zu Beginn einen
Fussball, ein Computerspiel, Jass-Karten und ein Barbecue in dein Haus. Nach einer gewissen Zeit, wirst du herausfinden was zu einem erwünschten Spielverhalten der Kinder führt
(resultierende Praktiken). Dinge die nicht zu einem gewünschten Verhalten führen, musst du für deine nächste Party unbedingt entfernen. Du machst also Erfahrungen und kannst aufgrund
von diesen deine nächste Party verbessern.
- Aus chaotischer Perspektive (chaotic) bedeutet das, dass das Verhalten der Kinder ausser Kontrolle ist, alles geschieht zufällig, sie bedienen sich selbstständig beim Kühlschrank, gehen in jedes Zimmer und verunstalten dein Haus. Die Party endet damit, dass die Kinder mit dem Feuer im Kamin spielen und dann aus Versehen das Haus niederbrennen.
Nun weisst du - wenn du dich das nächste Mal mit einem komplexen Problem konfrontiert siehst, dass dir agile Vorgehensweisen hierbei besser als planorientierte helfen können. Egal ob agiles Projekt oder agile Beschaffung, wir unterstützen dich mit dem agile.agreement in allen Phasen – Vor der Beschaffung, bei der Beschaffung, aber auch nach der Beschaffung von komplexen Leistungsgegenständen.
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